Der Bürgermeister sprach zögernd von einer Sonderumlage, was in den Ohren seiner Landwirte weniger schön klang. Der Pfarrer hoffte auf großzügige Spender, deren Namen ja vielleicht auf der neuen Glocke aufgegossen werden könnten. Solche Verewigung in Bronze setze natürlich höhere Beträge voraus.
Man brauche ja nicht gleich eine neue Glocke gießen zu lassen, warf einer der Gemeinderäte ( Müllermeister Meyer) ein. Man könne sie ja vielleicht schweißen? Er habe erst jüngst im nahen Nördlingen, beim Lachenmeyer, ein zerbrochenes Zahnrad seiner Mähmaschine schweißen lassen. Das funktioniere wieder einwandfrei. Auch gerissene Sensenblätter habe ihm der Lachenmeyer schon geschweißt. Die anderen Gemeinderäte lachten lauthals und fragten, ob er das ganze Dorf lächerlich machen wolle? Eine Glocke schweißen? Wo gäbe es denn so etwas?
Man konnte sich an diesem Abend nicht endgültig einigen und beauftragte den Pfarrer, sich einmal genauer nach den Kosten für eine neue Glocke zu erkundigen.
Er könne ja auch, meinten einige lachend, gelegentlich, wenn er wieder in die Stadt käme, bei dem Schweißer Lachenmeyer in Nördlingen vorbeischauen und diesen fragen, ob er auch eine Glocke schweißen könne.
Auf seinem Heimweg ging dem Pfarrer so manches durch den Sinn. Sollte man wirklich gleich eine neue Glocke anschaffen, die alte irgendwo in der Kirche in die Ecke stellen? Gab es vielleicht doch eine Möglichkeit sie zu erhalten?
Was hatte diese Glocke nicht alles schon erlebt?
Schon 1534 wurde sie Zeugin der Aufhebung der Abtei und 1537 der Einrichtung eines Getreidespeichers über dem Kirchenraum. Die Bauernkriege waren ins Land gegangen, und Auhausen protestantisch geworden. 1552 läutete sie dem letzten Abt, Georg Truchseß von Wetzhausen ins Grab. Als 1608 dann im ehemaligen Kloster von Auhausen die „Evangelische Union” gegründet wurde, begleitete ihr Klang, diesen für Deutschland so folgenreichen Akt.
Nein, sagte sich Pfarrer Wagner und schüttelte den Kopf. Diese Zeitzeugin durfte nicht für immer verstummen, oder gar umgegossen werden. Er war fest entschlossen, alles für den Erhalt der Glocke zu tun. Auch wenn er sich gegen einen Teil seiner Gemeinde stellen müßte.
Dicke Schweißperlen und Graugußstaub auf der Stirne, war Hans Lachenmeyer gerade dabei, ein größeres Maschinenteil durch Reparaturschweißung wieder gebrauchsfähig zu machen, als Pfarrer Wagner in seine Werkstätte trat. Interessiert schaute er dem Handwerker zu, und wartete bis dieser nach geraumer Zeit mit einem leichten Knall die rauschende Schweißflamme abstellte, den Brenner zur Seite legte. Mit einem Handtuch wischte sich Hans Lachenmeyer die Stirn, und gab Pfarrer Wagner die Hand zum Gruß. Dieser blickte lachend auf den schwarzen Abdruck in seiner Hand und trug sein ungewöhnliches Anliegen vor.
Lachenmeyer hörte, ohne den sorgenvollen Bericht zu unterbrechen, aufmerksam zu. Nach langem Gespräch versicherte er dem besorgten Pfarrer, sich die ganze Sache gründlich zu überlegen und dann Nachricht zu geben. Tage, ja Nächte des Nachdenkens und Abwägens folgten. Immer wieder unterbrochen von Drängen des, um seine alte Glocke bangenden Auhauser Pfarrers.
Wenn gleich in der Schweißtechnik bewandert, wie wenige zu dieser Zeit, mußt sich Hans Lachenmeyer erst näher mit dem Thema Glocken befassen. Neben anderen Unterlagen, studierte er genauer das 1913 von Glocken- und Orgelinspektor Walter herausgegebene Buch „Glockenkunde”. Außerdem interessierte Lachenmeyer, ob und gegebenenfalls wann und wie in der Vergangenheit Reparaturen an gesprungenen Glocken durchgeführt worden waren?
Tatsächlich schreibt Theophilus schon 1150 in seinen Schedula diversarum artium in diesem Zusammenhang von einer Art Schmelzschweißung, bzw. Lötung. Pomponius Gauricus , Florenz empfiehlt 1504 als Lötzusatz Messing mit einem Zusatz von 1/12 Arsenik. Für die ausführenden Handwerker eine sicher nicht gerade gesundheitsfördernde Mischung. Ausführlicher beschreibt Vannoccio Biringuccio (1480 – 1538) in seinem weitverbreiteten Lehrbuch Pirotechnica eine Art Einschmelzverfahren, das scheinbar ganz brauchbar, aber sehr aufwendig und umständlich war. Die Erfolgsrate schien sich außerdem in Grenzen gehalten zu haben. Etwas erfolgreicher waren offensichtlich die schwedischen Gießer Ohlson im 19. Jahrhundert mit ihrem Gieß-/Schweißverfahren. Wobei dieses mit Schweißen im heutigen Sinn nicht zu vergleichen war. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbesserte der französische Glockengießer Durand-Chambon in Montaris diese Methode. Dabei wurde die gesprungene Glocke mit der Krone nach unten in die Erde eingegraben und auf ca. 800 Grad erhitzt. Dann wurde in den erweiterten Riß Schmelzgut mit ca. 1.300 Grad eingegossen, bis eine Verbindung mit der Glocke stattfand. Machbar war dies allerdings nur bei vertikal verlaufenden Rissen. Schäden an der Krone oder Querrisse konnten durch dieses, doch sehr zeitaufwendige und umständliche Verfahren nicht behoben werden.
Hans Lachenmeyer nun wollte den Schaden an der Auhauser Glocke mittels des um 1900 von Edmond Fouche´ entwickelten autogenen Schweißverfahrens beheben. Würde er erfolgreicher sein, als alle seine Vorgänger?
Sechs Wochen nach seinem Besuch in der Nördlinger Werkstätte, hielt Pfarrer Wagner den eben erhaltenen Brief in der Hand und las: „Sehr geehrter Herr Pfarrer, nach langen Überlegungen und einer Reihe von Experimenten in meiner Werkstätte, glaube ich ein Verfahren gefunden zu haben, das es mir ermöglicht Ihre gesprungen Glocke so zu schweißen, daß diese wieder voll gebrauchsfähig wird. In der Theorie bin ich mir absolut sicher. Aber, Sie wissen ja, Herr Pfarrer, alle Theorie ist grau. Die Praxis muß es erweisen. Die Frage ist nun, ob Sie und Ihre Gemeinde das Risiko eingehen wollen? Ich meinerseits bin bereit. Mit vorzüglicher Hochachtung. Hans Lachenmeyer.”
Pfarrer Wagner faltete den Brief zusammen und machte sich auf den Weg zum Bürgermeister. Er kam dabei an der Glocke vorbei, die auf zwei Kanthölzern gelagert, am Fuße des Kirchturmes stand. Unter reger Anteilnahme des ganzen Dorfes, insbesondere der Jugend, hatten in gemeinsamer Arbeit Schmied und Zimmermann die gesprungene Glocke aus der Glockenstube geholt, und an einem Flaschenzug mit dicken Hanfseilen, an den jetzigen Standort herabgelassen.
Der Bauernhof des Bürgermeisters war einer der größten im Ort. Unter der Stalltür stehend, berieten Pfarrer und Bürgermeister. Es dauerte nicht lange, dann gesellte sich der Mesner dazu. Auf den Brief verweisend, suchte der Pfarrer seine Gesprächspartner zu überzeugen. Diese waren skeptisch. Insbesondere der Bürgermeister hatte Angst, sich und die ganze Gemeinde zu blamieren, dem Spott der Nachbargemeinden auszusetzen, wenn das mit dem Schweißen der Glocke nicht klappen sollte. Rings umher würde man über sie lachen, und das Geld wären sie außerdem los. Der Pfarrer jedoch wollte seine alte Glocke erhalten, und versuchte bered die vorgebrachten Bedenken zu zerstreuen.
Nach langem hin und her einigte man sich darauf, die Glocke, möglichst ohne dies „an die große Glocke zu hängen”, nach Nördlingen zu schaffen. Der Zimmermann sollte sie auf einen Leiterwagen des Bürgermeisters laden, und der Mesner sie dann per Pferdegespann die etwa 20 km nach Nördlingen fuhrwerken. So kam es, daß an einem trüben Novembertag, es war schon fast dunkel, der regennasse Mesner die mit Stroh abgedeckte Glocke in der Werkstätte von Hans Lachenmeyer anlieferte.
In angespannter Ruhe ging Hans Lachenmeyer, zusammen mit seinem Gehilfen ans Werk. Aufgeregtheit entsprach nicht seinem Naturell, Gründlichkeit und Sorgfalt ja. Jeder Arbeitsschritt war lange sorgfältig überlegt und wurde dennoch bei seiner Ausführung möglichst nochmals verbessert. Der Riß im Glockenmantel war auf die notwendige Breite erweitert, der Glühofen gebaut und die Glocke darin wohl verwahrt. Das nötige Zusatzmaterial in der richtigen Zusammensetzung stand in Form von langen, fingerdicken Stäben bereit.
Von morgens ein Uhr an hatten sie, von kleinen Pausen abgesehen, schwer und hartnäckig gearbeitet. Mit großer Vorsicht und Sorgfalt den Ofen beheizt. Immer wieder die Temperatur überprüft. Hans Lachenmeyer hatte dafür in den zurückliegenden Jahren ein besonderes Gespür entwickelt. War es schon so weit? Sollte er noch abwarten? Entschlossen griff er zum, von ihm selbst für diesen Zweck umgebauten Brenner. Die autogene Flamme rauschte fast beruhigend gleichmäßig. Die linke Hand faßte den Zusatzstab fester. Schon schmolzen die Rißränder. Das Schweißbad spiegelte durch die grüne Schutzbrille. Über drei Stunden perlten dicke Schweißtropfen von der Stirn Lachenmeyers. Das Hemd war bald tropfnaß geschwitzt, doch der Riß begann sich zusehends zu schließen.
Unterbrechen des Schweißvorganges. Überprüfen der Glocken-Temperatur. Sie mußte auf alle Fälle konstant gehalten werden. In kurzer Pause einen kräftigen Schluck. Der hitzegeplagte Körper verlange nach Flüssigkeit. Noch waren ca. 20 cm Riß zu schließen. Die Arme wurden schwer von der Last des überlangen Brenners, vom Gewicht der dicken Bronzestäbe.
Von der Stirne heiß
Rinnen muß der Schweiß,
Soll das Werk den Meister loben;
Doch der Segen kommt von oben.
Endlich war es geschafft. Erleichtert drehte Hans Lachenmeyer die Gashähne des Brenners zu. Das Rauschen der bläulichen Flamme erlosch mit leichtem Knall. Noch einmal wurde die Temperatur überprüft, dann der Ofen sorgfältig geschlossen. Nun begann die Zeit des Wartens. Mindestens drei Tage und Nächte würde es dauern, bis die 500 kg schwere Glocke erkaltet war, und aus dem Ofen genommen werden konnte. Für den sechsundzwanzig-jährigen Hans Lachenmeyer drei Tage des Hoffens und Bangens, der Unsicherheit und Zuversicht. Hatte er alles bedacht? Das richtige Material, die rechte Temperatur gewählt?
Ach! vielleicht, indem wir hoffen,
Hat uns Unheil schon getroffen.
Die Glocke war aus dem Ofen. Asche und Staub entfernt. Erkaltet hing sie am Hacken des Flaschenzuges. Die nächsten Minuten würden Hans Lachenmeyer Gewißheit bringen. Hatten sein Wissen und Können ausgereicht, sich all die Mühen gelohnt? Oder würde er dem Pfarrer und der Gemeinde von Auhausen, Mißlingen vermelden müssen? Er gab dem bereitstehenden Gehilfen einen Wink. Der eiserne Klöppel in dessen Händen schlug gegen die Glocke. Mit diesem Schlag wich die Spannung in der Werkstätte einem wohlklingenden Ton „c”.
Drei Jahre später, 1927, schieb der Münchner Domkapellmeister und Akademieprofessor L. Berberich:
In der alten Benediktinerkirche in Auhausen lernte ich eine von Lachenmeyer geschweißte Glocke kennen. Sie versieht seit 3 Jahren wieder ihren Dienst. Die Sprünge, ein Längs- und Querriß von je 45 cm Länge sind verschwunden. Die Nebentöne: Reine Oberoktave, große Terz und Normalquint treten gut hervor. Der alte Toncharakter wurde voll beibehalten. Da die Firma Lachenmeyer die gewünschte Garantie gibt, dürfte dies Verfahren zur Erhaltung alter wertvoller Glocken von größter Bedeutung sein."
1930 schreibt die Gemeindeverwaltung Auhausen:
„Heute sind es sechs Jahre, daß die Firma Lachenmeyer unsere zehn Zentner schwere Glocke auf unseren Antrag hin als ihre Erste schweißte. Da die Glocke täglich geläutet wird, wie früher herrlich klingt und jede viertel Stunde, Tag und Nacht der schwere Uhrhammer an der Schweißstelle anschlägt, möchte die Gemeinde hiermit bezeugen, daß Alle damit bestens zufrieden sind und unsere historische Glocke aus dem 15. Jahrhd. dadurch erhalten wurde."